¨Die Neurobiologie der Schönheit¨ (Read article as PDF)

Im ältesten Gebäude des Universitätsklinikums Berlin, in der Nähe des großen Bettenhauses im Bezirk Mitte, versteckt sich eine altehrwürdige Bibliothek. Ihre verstaubten Inhalte werden gerade nach draußen geschafft, und farbenfrohe Bücher halten Einzug, voll mit fantasievollen Abbildungen und seitengroßen Fotografien: Die Kunst ist eingezogen und mit ihr die Möglichkeit zu einer seltenen Verbindung von Natur- und Geisteswissenschaften – von Hirnforschung und Ästhetikempfinden.

Die Bibliothek bildet die Basis einer im Mai dieses Jahres gegründeten Vereinigung, der „Association of Neuroesthetics – A Platform for Art and Neuroscience“. Initiator des Vereins ist Alexander Abbushi, Arzt der Klinik für Neurochirurgie am Virchow- Klinikum der Charité: „Unsere Arbeit hier soll nicht verstaubt sein, sondern offen für neue Wege und interessante Menschen“, sagt er.

Abbushi möchte Künstler und Wissenschaftler zusammenbringen, die sich gegenseitig inspirieren – weil Dinge entstehen könnten, die faszinierend und schön sind. Zu verstehen, warum sie schön sind, ist das zweite Ziel der „Association“. Mit dieser Frage beschäftigt sich die sogenannte Neuroästhetik. Wissenschaftler suchen nach den biologischen Grundlagen der „ästhetischen Wahrnehmung“. Forschungsobjekte sind Bilder der Natur wie Gesichter und Landschaften, aber auch von Menschen gemachte Kunst.

„Der Versuch, Kunst und ihre Bedeutung für den Menschen neurowissenschaftlich zu untersuchen, macht einigen Menschen Angst“, vermutet Abbushi, „sie befürchten eine Entzauberung der Kunst.“ Doch es gehe bei der Vereinigung von Künstlern und Wissenschaftlern nicht darum, die Kunst auf eine Formel zu reduzieren, sondern mehr über sie zu erfahren.

Unterstützung für den Verein fand Abbushi unter anderem bei seinem Chef, dem Direktor der Klinik für Neurochirurgie, Peter Vajkoczy, sowie dem Neuropsychologen Ernst Pöppel, der schon in den 80er-Jahren auf das Thema aufmerksam gemacht hat. Auch Vertreter aus der Kunstszene wie die Kuratorin des Centre Georges Pompidou in Paris, Christine Macel, oder der dänische Künstler Olafur Eliasson befürworten die Idee und wollen sich beteiligen. Ein weiteres Mitglied ist der Leiter des Londoner „Institute of Neuroesthetics“. Semir Zeki hofft, dass Wissenschaftler durch Beobachtungen von Menschen im Umgang mit Kunst neue Einblicke in die Arbeitsweisen des subjektiven Gehirns bekommen.

Zeki hat als einer von wenigen Wissenschaftlern tatsächlich Forschung auf dem Gebiet der Neuroästhetik betrieben. Aufgrund seiner Ergebnisse glaubt er, dass Kunst „das Nebenprodukt eines konzeptformenden Gehirns“ ist. Im Laufe der menschlichen Evolution sei die Fähigkeit entstanden, im Gehirn Idealkonzepte von Gesichtern oder Körpern zu formen, so Zeki. Kunst sei nun das Verlangen eines Menschen, diesen Idealkonzepten in seinem Kopf Ausdruck zu verleihen.

Künstler wie Michelangelo hätten ihr Leben damit verbracht, ihr Idealkonzept von Schönheit in Stein zu meißeln, auf Papier zu bringen oder in Worte zu fassen. Viele seien daran gescheitert. Michelangelo habe seine Figuren unvollendet gelassen, weil er das Ideal nicht erreichen konnte. Und dann macht Zeki einen großen Schritt nach vorne: Der Mensch forme nicht nur Konzepte der Schönheit, sondern auch von Liebe oder Hass, vermutet er. Auch diese Vorstellungen versuche er darzustellen. Wie ein Mensch allerdings aus der Vielfalt von Eindrücken, die mit komplizierten Prozessen wie der Liebe zu tun haben, ein Idealkonzept formen kann, bleibt offen.

Und wie passt moderne Kunst in diese Theorie? Zekis Lösungsvorschlag: Oft würden die Erlebnisse eines Menschen nicht der Idealvorstellung in seinem Kopf entsprechen. Die entstehende Reibung könne Motivation sein, die persönliche Wahrnehmung nach außen zu tragen. Bei der Darstellung der entstehenden Kunstwerke würden dann vermehrt kulturell erlernte Ideen eine Rolle spielen – also solche Ideen und Konzepte, die ein Mensch im Laufe seines Lebens, beeinflusst durch Umweltfaktoren wie Eltern, Freunde oder soziale Erlebnisse, nach und nach geformt hat. Manfred Spitzer, Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm, hat selbst noch keine Forschung auf dem Gebiet der Neuroästhetik durchgeführt, jedoch eine Zusammenfassung zu genau diesem Unterschied von biologisch und kulturell begründeten Konzepten verfasst. Neurowissenschaftliche Studien hätten gezeigt, schreibt er, dass Gesichter und Landschaften in Strukturen des Gehirns verarbeitet würden, die entwicklungsgeschichtlich gesehen relativ früh entstanden seien und damit in diesen Fällen eher biologisch begründete Mechanismen eine Rolle spielen. Bei der Betrachtung von abstrakten Kunstwerken dagegen seien vermehrt Teile des später entwickelten Stirnhirns aktiviert.

Verfolgt man diese Unterscheidung von evolutionär-ästhetischer und zeitgenössischer Kunst in den verschiedenen Regionen eines Gehirns, drängt sich ein Verdacht auf. Die Wahrnehmung natürlicher Schönheit und ihre Darstellung mögen auf biologischen Mechanismen basieren, die dann auch erforschbar wären. Moderne Kunst dagegen könnte allein auf ganz individuellen, im Laufe eines Lebens erlernten Kulturvorstellungen fußen. Die Suche nach einem entsprechenden Regelwerk im Gehirn für die Wahrnehmung dieser Art von Kunst wäre dann wenig sinnvoll. Eine Reaktion auf Kunst und Schönheit findet sich in jedem menschlichen Gehirn. Auch beim vermeintlich verzauberten Versinken in Malerei oder Musik, beim Ausdruckstanz oder dem Miterleben einer spannenden Geschichte. Wenn man so will, ist „Kunst ein Neuronenfeuer“, wie „Die Zeit“ als Resonanz auf die Gründung der „Association of Neuroesthetics“ titelte. Doch wie es entsteht und wie sich „Feuer“ und Kunst gegenseitig bedingen, bleibt Gegenstand der Forschung. Vielleicht passiert tatsächlich, was Abbushi erhofft und bislang kaum einer für möglich hält, und die Kunst zieht ein in die rationale Forschungswelt – ohne dabei an Verzauberungskraft zu verlieren.

(Isabelle Bareither)

 

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